Wir Kinder aus Migrantenfamilien wissen: Unsere Eltern haben so hart gekämpft, um uns dieses Leben zu ermöglichen. Dafür sind wir ihnen dankbar. Das Gefühl, ihnen etwas zurückgeben zu müssen, sitzt tief.
Mit 16, 17 Jahren habe ich gemerkt, dass ich mich zu Menschen – unabhängig ihres Geschlechts – hingezogen fühlte. Es war kein großer Schock für mich, ich nahm es sogar mit großer Neugierde an, so als hätte ich eines Tages herausgefunden, dass ich Äpfel in sämtlichen Variationen mag, als frisches Obst, als Mus, gebacken und auch mal frittiert. Ich behielt diese neue Erkenntnis für mich, erzählte nur meinen engen Freund*innen davon und lebte es in einer Community aus, der ich vertraute. Mit meinen Eltern sprach ich nicht darüber. Ich wusste, dass die Info – ich stehe auch auf Frauen – nicht zu den Dingen gehörten, die meine Eltern von mir hören wollten.
„Liebe und ehre deine Eltern“
Dieses Gebot existiert schon so lange. In der Bibel heißt es: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“. Konfuzius sagt: „Kindliche Pietät ist die Grundlage der Tugend und der Ursprung aller geistigen Kultur.“ Es steckt in Märchen und Kinderliedern, in Filmen, Geschichten und in Alltagsritualen. Meine größte Angst in meiner Kindheit war, meine Eltern zu enttäuschen. Schon als 10-Jährige entwickelte ich Strategien, um schlechte Noten vor ihnen zu verbergen. Ich fälschte Unterschriften, klebte Seiten zusammen oder erfand komplizierte Ausreden, warum die Lehrerin die Klassenarbeiten noch nicht zurückgegeben hatte. Dabei waren die Reaktionen meiner Eltern nicht radikal: Es gab weder Strafen im engen Sinne noch irgendeine Art von Züchtigung. Was mich aber belastete, waren die offensichtliche Enttäuschung, die ständigen Vergleiche mit anderen Kindern, die andauernde Predigt über den Wert von Bildung – und darüber, welche Opfer sie für mich gebracht haben.
In seinem Essay „Why we struggle to say ‚I love you'“ schreibt der Autor und Pulitzer-Preisträger Viet Thanh Nguyen: „So many of our Asian parents have struggled, suffered and endured in ways that are completely beyond the imaginations of their children born or raised in North American comfort. This struggle and sacrifice was how Asian parents say ‚I love you‘ without having to say it. And so many of us children are not expected to say it either, but instead are expected to express love through gratitude, which means obeying our parents and following their wishes for how we should live our lives.“
Ich wusste, was die Erwartungen meiner Eltern waren: Kein Sex, Drugs and Rock’n‘ Roll in der Schulzeit, ein Einser-Abitur abschließen, ein Studium absolvieren, einen Akademiker-Job finden, eine Mann-Frau-Kind-Familie gründen. Ganz klassisch eben. Mit einer Frau mein Leben verbringen, gehörte nicht dazu. Und hier liegt die Krux. Was passiert, wenn ich ihnen nicht das geben kann, was sie von mir wollen: Wenn ich ein anderes Leben führe, andere Prioritäten setze, ihre Ansichten und Werte hinterfrage? Wie kann ich ihnen mein „I love you“ zeigen, wie kann ich meine Dankbarkeit beweisen? Wann wird Dankbarkeit gar zu einer Last?
Dankbarkeit und Dankesschuld
Wikipedia definiert Dankbarkeit als „ein positives Gefühl oder eine Haltung in Anerkennung einer materiellen oder immateriellen Zuwendung, die man erhalten hat oder erhalten wird.“ Studien in der Psychologie zeigen, dass dankbare Menschen ausgeglichener, weniger depressiv und weniger gestresst sind. Dankbarkeit gilt auch als Motor für eine bessere Beziehung.
Es gibt jedoch kulturelle Unterschiede: Verschiedene Studien weisen daraufhin, dass der positive Effekt von Dankbarkeit auf das Wohlbefinden bei asiatischen Menschen nicht so stark ausfällt wie allgemein angenommen. „Expressing appreciation for other people’s help may generate more mixed emotions for them, like indebtedness, guilt and regret.“, heißt es im Artikel „How Cultural Differences Shape Your Gratitude“ vom Greater Good Science Center der University of California, Berkeley. Die Dankesschuld (oder Verschuldung – „indebtedness“) wird dabei verstanden als ein Gefühl der Verpflichtung, etwas zurückzuzahlen. Menschen, die Dankesschuld empfinden, sind gestresst und meiden den Kontakt zu dem oder der Wohltäter*in. Interessant ist, dass je mehr Erwartungen ein*e Wohltäter*in kommuniziert , desto mehr nimmt das Gefühl der Dankesschuld zu, das Gefühl der Dankbarkeit jedoch ab.
Bei Kindern aus Migrantenfamilien gehen Dankbarkeit und Dankesschuld oft Hand in Hand, wie eine Studie an der University of Helsinki zeigt. 2018/2019 interviewten die Forscherinnen Elina Turjanmaa und Inga Jasinskaja-Lahti 80 Jugendliche der Migrantengeneration 1.5 aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Ihre Erkenntnis: Die meisten empfinden sowohl Dankbarkeit als auch Dankesschuld. Diese Mischung kann zu Ambivalenzen in der Eltern-Kind-Beziehung führen. „Our findings also show how these two emotions can have divergent consequences, with gratitude strengthening intergenerational relations and indebtedness straining those relations by producing resentment for the sacrifice the parents chose to make on their children’s behalf“.
In meinem Fall hat die Dankesschuld irgendwann so überhand genommen, dass sie sämtliche positive Gefühle zu meinen Eltern unterdrückt und sehr viel Groll auslöst.
Das Coming Out-Gespräch mit meiner Mutter war in vielen Hinsichten schwierig und verletzend. Dennoch hat sie am Ende gesagt, dass sie mich lieben würde. Eigentlich kann ich mich darüber freuen. Doch das tat ich nicht. Auch nicht, als es nach zwei Jahren so aussah, als könnten meine Eltern uns langsam akzeptieren. Natürlich bin ich erleichtert, dass meine Freundin bei meinen Eltern nicht mehr unerwünscht ist. Dass wir sie manchmal zu dritt besuchen können, ihnen im Garten helfen und danach gemeinsam Abend essen können. Während meine Freundin diese Entwicklungen anerkannte, klammerte ich mich an meinem Groll, wie unnötig kräftezerrend diese zwei Jahren dennoch waren oder dass meine Eltern sich bisher nie für ihre queerfeindlichen Aussagen entschuldigt haben. Ich dachte auch: Sie akzeptierten uns nicht etwa, weil sie einsahen, dass Homofeindlichkeit Mist ist, sondern weil sie mich und ihr Enkelkind liebten. Also ist das wieder eine Art, etwas für mich zu tun. „Wir sind immer bereit, alles für dich zu opfern“, schrieb meine Mutter mir vor nicht langer Zeit, im Kontext der ganzen Situation. Für sie mag es ein Ausdruck elterlicher Liebe sein. Für mich ist es ein erneuter Hinweis auf ihr Opfertum.
Wie finde ich zurück zu einer gesunden Dankbarkeit ohne Schuldgefühle und Groll?
Ist es auch okay, nicht dankbar zu sein?
Über die Frage, ob wir unseren Eltern etwas schulden und ob wir ihnen dankbar sein müssen, hat die Philosophin Barbara Bleisch ein ganzes Buch geschrieben. In „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ argumentiert sie: Allein die Eltern haben entschieden, das Kind zu bekommen. Eltern zu sein, heißt, die Pflicht zu haben, sich um sein Kind zu kümmern. Allein dafür, dass Menschen ihrer Pflicht bzw. ihrem Job nachkommen, müssen wir ihnen nicht dankbar sein. Es spricht jedoch nichts dagegen, zu danken, wenn wir das wirklich wollen. Es ist sogar förderlich für die Beziehung. Ähnlich ist es mit den Lehrer*innen: Niemand verlangt, dass wir unseren Lehrer*innen dafür dankbar sein sollen, dass sie uns unterrichten, denn es ist der Job, den sie ausgewählt haben. Gibt es Lehrer*innen, die sich besonders um uns bemüht haben, können wir natürlich trotzdem Dankbarkeit empfinden und diese ausdrücken.
Ich habe das Buch von Barbara Bleisch gerne gelesen. Natürlich scheibt sie aus einer bestimmten Perspektive, nämlich aus der einer in Westeuropa und mit Schweizer Eltern aufgewachsenen und sozialisierten Philosophin. So sehr ich ihre Argumentation nachvollziehen kann, fühle ich mich nicht wohl, sie eins zu eins zu übernehmen. Dafür ist meine eigene Sozialisation zu stark. Was ihr Buch mir aber klar machte: Liebe und Dankbarkeit gegenüber den Eltern sind keine unumstößlichen Gesetze, sie sind letzten Endes nur ein Konstrukt und können – wenn erforderlich – hinterfragt werden. Zumindest können wir überlegen, wo Dankbarkeit angebracht ist und wo es auch ausreicht, Anerkennung zu empfinden. Zumindest kann ich bei meinem Kind das Narrativ ändern. Mir klar machen, dass ich Dankbarkeit nicht einfordern kann, sondern um seine Liebe, sein Verständnis und Respekt genauso kämpfen muss wie bei jeder anderen Person.
Was diese Ambivalenz an Empfindungen zu meinen Eltern angeht, habe ich noch keine abschließende Lösung gefunden. Ich arbeite noch dran. Vielleicht ist es auch okay, mich erst einmal auf andere positive Gefühle zu konzentrieren. Zum Beispiel Respekt. Zum Beispiel Interesse für ihre Lebensgeschichte. Zum Beispiel Bewunderung. Für die Stärke und Beharrlichkeit meiner Mutter, für die Güte meines Vaters. Für ihre Kämpfe. Vielleicht reichen sie aus für unsere Eltern-Kind-Beziehung.
Weitere Empfehlungen:
- Was an uns kleben bleibt (Kolumne Chinatown von Lin Hierse, taz, 2020)
- „Ein Kind ist keine Vorsorge“ (Interview mit Barbara Bleisch, Zeit.de, 2018)
- The Difference between Gratitude and Indebtedness (Shueh-Chin Ting, American International Journal of Contemporary Research, 2017)